Autor: Dr. Burkhard Pohl
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Die private Verfügbarkeit von Medienprodukten und Trägermedien hat den Umgang mit Hör- und Sehtexten revolutioniert. Das Internet macht Filme, Hörtexte und Podcasts auf unterschiedlichen Kanälen zugänglich. Youtuber und Influencer dominieren stellenweise die öffentliche Debatte. Mit der Zugänglichkeit der auditiven und visuellen Texte nimmt deren Bedeutung im Spektrum der zu fördernden fremdsprachlichen Kompetenzen weiter zu. Neue Bild-Text-Kombinationen verändern zudem die Hierarchie zugunsten der visuellen Texte als dominierende Bedeutungsträger. Das Hörsehverstehen wurde mittlerweile zu einem eigenen Kompetenzbereich aufgewertet. Die Textproduktion erweitert sich um die Möglichkeiten der digitalen Speicherung von Sprechakten und der Filmproduktion am heimischen Schreibtisch. Die Textrezeption kann auf ein schier uferloses Repertoire an Dokumenten zurückgreifen. Interkulturelle Kontexte lassen sich leichter erschließen. Für die Organisation von Lernarrangements und die Materialsuche kommt es darauf an, Gütekriterien zu entwickeln und eingeführte Verfahren an den jeweiligen Gegenstand anzupassen.
Hörverstehen
Man kann momentan von einer Renaissance des Hörens sprechen (z. B. Spotify), augenfällig in der Coronakrise. Der Boom der Podcasts schlägt sich auch im Fremdsprachenunterricht nieder. Schülerinnen und Schüler können anhand gestreamter Texte individuell ihr Verstehen trainieren. Damit wird durch die Digitalisierung der Zugang zu authentischen Hörtexten erleichtert. Hier bietet das Netz unzählige Quellen, wie z. B. in einem multimedialen Themenarchiv wie der 15Mpedia (https://15mpedia.org/wiki/Portada). Aber auch die Portale der Radiosender wie Cadena SER (https://cadenaser.com/ser/podcasts) oder Onda Cero (https://www.ondacero.es/podcast) bieten eine Fundgrube an Materialien, worauf bereits Geerkens 2005 und von Kahlden 2005 hinweisen. Umfangreichere Hörbücher lassen sich über Streamingdienste abrufen.
Der Lehrkraft kommt eine veränderte Rolle zu. Im lehrwerkgesteuerten Unterricht galt es anhand eines engen Textkorpus von didaktisierten und wenigen authentischen Texten, erweitert ggf. um Lieder und andere mühsam beschaffte Tondokumente, die auditive Rezeption zu trainieren. Eigenverantwortliches Lernen war mit Lern-CDs und später auch Lernsoftware möglich, aber seitens aller Beteiligten mit viel Aufwand verbunden.
Im digitalisierten Unterricht der leicht zugänglichen authentischen Texte muss die Lehrkraft vor allem selektieren und didaktisieren, sich aber auch kontinuierlich urheberrechtlich weiterbilden. Aufgaben lassen sich mithilfe entsprechender digitaler Anwendungen am eigenen Endgerät entwerfen (vgl. zu audacity bereits von Kahlden 2005). Mittlerweile bieten auch die Verlage online abrufbare Materialien für alle Niveaus an (z. B. Weinel 2019 zu A1/A2); sogar komplette Prüfungen, z. B. zum österreichischen Abitur (unter https://www.matura.gv.at), sind online zu finden. Auch Lernportale wie z. B. https://www.profedeele.es und https://learningapps.org bieten Texte zum Hörverstehen an.
Hörsehverstehen
Obwohl das Hörsehverstehen noch recht jung im Teilfächerkanon ist, kann es bereits auf eine etablierte Filmdidaktik zurückgreifen. Im Unterschied zum reinen Hörtext bieten visuelle Dokumente eine Komplexität, auf die vertraute Prozesse des Textverstehens und der Textkompetenz problemlos übertragen werden können (vgl. hierzu auch „Lesen“ und „Text- und Medienkompetenz“ ).
Der Paradigmenwechsel zum Leitmedium Film wurde erst allmählich in den Kerncurricula abgebildet. Das Konzept einer sprachenübergreifenden Filmbildung nach Blell u. a. 2016 („Film erleben, Film nutzen, Film verstehen“) umfasst vier Kompetenzbereiche. Die fortschreitende Digitalisierung verlagert und erweitert nun das didaktische Potenzial der einzelnen Bereiche. Standen zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem Film primär das sprachliche Handeln und die analytische Rezeption im Zentrum, bieten sich neue Optionen für das produktive filmische Gestalten und die Kontextualisierung des Films in der Mediengesellschaft. Dabei wäre der eigentliche mediale Umbruch bereits mit der Einführung der VHS-Kassette und der DVD als potenziell individuell nutzbare Datenträger anzusetzen, der durch das Streaming nun in eine neue Phase tritt. Einige Beispiele seien im Folgenden genannt.
Film kontextualisieren, filmbezogen sprachlich handeln
Die interkulturelle Dimension der digitalen Bildung ist gerade im Fremdsprachenunterricht zu unterstreichen. So lässt sich anhand mehrsprachiger Videos die Sprachenvielfalt der spanischen Halbinsel diskutieren (vgl. hierzu ein konkretes Unterrichtsbeispiel unter Unidad 2).
Aktuelle Kontexte werden bevorzugt über filmische Texte vermittelt. Das Netz ist eine visuelle Fundgrube und bietet für jedes Thema authentisches Material an Primär-, Para- und Peritexten. Auch in der Coronakrise setzen sich Websites und Kunstformen kreativ mit der Situation auseinander (z. B. die Kurzfilme des Cuarentena-Filmfestivals; siehe unter https://www.instagram.com/cuarentenafilmfestival ) und Dokumentationen reflektieren die Pandemie (z. B. https://www.elcomercio.es/sociedad/salud/coronavirus-documental).
Zur Teilkompetenzschulung des Hörens oder Sehens gilt es gleichwohl weiterhin adäquate Lernsituationen zu generieren. Zur besseren Schulung und Vorentlastung des Hörens plädiert etwa Fredershausen (2018) für die verstärkte Nutzung von Drehbüchern und Untertiteln. Zur Vorentlastung des Sehens wiederum empfiehlt derselbe Verfasser Comics statt bewegter und flüchtiger Filmbilder.
Film gestalten
Die digitale Filmproduktion wird zum Alltagsgeschäft. Videos avancieren zum alltäglichen Kommunikations- und Ausdrucksmittel. Per Smartphone werden sekundenschnell Hör- und Hörsehtexte erstellt und verfügbar gemacht. Das Arbeitszimmer (und Wohnzimmer) wird zum Aufnahmestudio. Neue Tools wie die Untertitelung erweitern das Spektrum.
Erklärvideos finden Eingang in den Unterricht als Teil des flipped classroom; zu unterscheiden sind hier die Grundformen des Screencast-, des Lege- und des „realen“ Videos (Gloeckner 2019). Sowohl Produktion wie auch Rezeption der Erklärvideos benötigen transparente Gütekriterien an die sprachlich-didaktische Gestaltung, die mit den Lernenden eingeübt werden müssen (Sommerfeldt 2019: 15). Andernfalls droht der flipped classroom zur Vorlesung zu werden. Zwei konkrete Unterrichtsbeispiele für die Rezeption (unter Unidad 4) und Produktion von Erklärvideos (unter Unidad 6) finden sich in unserer Rubrik zur „Lehrwerksarbeit“.
Film analysieren
Schülerinnen und Schüler verfügen über ein Wissen zu standardisierten Schnittverfahren und bestimmten erzählerischen Filmcodes. Diese gilt es mit den Mitteln der Filmanalyse zu schulen, wobei im Sinne eines „ästhetischen Hörsehverstehens“ (Rössler 2020: 4) neben den visuellen gerade auch die akustischen Inszenierungsmittel, onscreen wie offscreen, zu betrachten sind. Optionale Untertitel erleichtern die Rezeption und bieten Möglichkeiten der Erweiterung oder Reduzierung der Lernkanäle.
Neue Herausforderungen
Die Omnipräsenz visueller Texte mag dazu verführen, die Rezeption fälschlicherweise als quasi verinnerlichte Kulturtechnik vorauszusetzen. Dies enthebt den Unterricht nicht der Aufgabe, die ästhetischen, technischen und inhaltlichen Standards zu vermitteln.
Film im Netz vollzieht sich oft im Rahmen der Anonymität: Die Rolle des Autors (Direktor, guionista) verschwindet im Youtube- und Netflix-Zeitalter hinter den Titeln und Stars bzw. dem Performer vor der Kamera. Zur Medienkompetenz gehört aber auch das Wissen um die Produktionskontexte, um Werkstrukturen etc.
Besonderes Augenmerk muss dabei der kritischen Reflexion der Realitätskonstruktion im (visuellen) Text gelten – darin sind sich Postulate einer fächerübergreifenden politischen Bildung (Grünewald u. a. 2017) und der KMK-Strategie (2016) einig.
Gerade das Zusammenspiel der Sinneskanäle im Film bildet dabei sein Potenzial. Die Multimodalität des Films (Verbindung von Bild, Ton, Musik, Text) bietet Anlass genug, kritisch über die Funktion und Wirkung von Medien in der digitalen Welt – z. B. die mehrkanalige Inszenierung bestimmter Botschaften – zu sprechen. Zugleich bedeutet gerade die Digitalisierung die Chance, die Komplexität des Mediums noch besser zu nutzen – etwa zur differenzierten Semantisierung von Wortschatz und zur mehrkanaligen Textrezeption mithilfe des Ein- oder Ausblendens von Bild, Ton und Untertitel/Text.